Kleine Einführung

Der Karasu-Tengu ist ein altes japanisches Fabelwesen. Diese Tengu-Art hat Federn, Flügel und einen Vogelschnabel und ist wahrscheinlich die Urform der Tengu. Auf manchen Bildern werden sie beinahe monströs dargestellt mit scharfen Zähnen und Krallen, fast aussehend wie ausgestorbene Raubsaurier und auf anderen, wie aus einem Comic entsprungen. Ihnen werden allerlei magische Fähigkeiten nachgesagt.

Eine besondere Rolle spielen sie in der shintoistischen Religion. Man findet noch heute zahlreiche Bilder und Statuen in alten Tempeln und Schreinen, die diese Tengu zeigen.
In Mythen und Legenden erscheinen sie als Bergasketen, Bergpriester oder Kriegsmönche mit ihrer typischen Kopfbedeckung.
Sie sollen zurückgezogen in den Bergen leben, aus riesigen Eiern schlüpfen, in gut versteckten Nestern hausen und sich auf hohen Bäumen versammeln.
Den Menschen sollen sie sich über Gedanken und Träume mitteilen. Zudem heißt es sie können durch ihre magischen Fähigkeiten plötzlich von einem Ort verschwinden, um im gleichen Augenblick an einem anderen wieder zu erscheinen.
Ihre schelmische Natur verleitet sie gerne dazu, Unruhe und Verwirrung unter eitlen und hochnäsigen Menschen zu stiften. Manchmal sollen sie diese Menschen entführen und dann verstört durch den Wald irren lassen.
Doch Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft, so heißt es, würden sie belohnen.
Und oft wurden sie in Gebeten von verzweifelten Menschen angerufen, um vermissten Kindern zu helfen, den Weg aus dem Wald nach Hause zu finden.

Das soziale Umfeld der Tengu ist streng hierarchisch geordnet. Auf vielen Bildern sieht man Tengu-Oberhaupt Sojobo in einem großen Nest sitzend umgeben von seinen Untertanen, den Karasu-Tengu.
Sojobo selbst wird meist mit rotem Gesicht, langer Nase und einem Federfächer in der Hand dargestellt. Dies ist eine sehr häufige Tengu-Abbildung.

Aber eins der wichtigsten Merkmale ist ihre Eigenschaft als hervorragende Kämpfer und Lehrmeister der Kriegskünste.
Den Karasu-Tengu wird das Beherrschen der Schwertkunst nachgesagt, den langnasigen Tengu das Kämpfen mit Stangenwaffen. Aber auch die waffenlose Kampfkunst sowie zahlreiche magische Tricks beherrschen alle Tengu. So sollen z.B. auch die sagenhaften Zauberkräfte der Ninja auf die Fertigkeiten der Tengu zurückgehen.
Viele Krieger beriefen sich darauf, ihre Kunst von den Tengu gelernt zu haben. Eine der berühmtesten Heldenfiguren ist der Krieger Minamoto Yoshitsune, dem von den Tengu die Schwertkunst gelehrt wurde.


... Aber nun endlich zu den Erzählungen ...
(siehe dazu auch die Bilder) ...





Wie ein Tengu die Kriegskunst erlernt    

Tengu sind nicht unsterblich. Man sagt sie waren in ihrem früheren Leben hochnäsige Menschen und wurden deshalb zu Tengu.

In den ersten tausend Jahren seines Lebens wird ein Tengu von einem älteren Tengu in die Kampfkünste eingewiesen. Es ist die ursprüngliche Kampfkunst, welche auf Geschicklichkeit, fließende Bewegungen und unmittelbares Reagieren beruht. Sie lernen aber auch, sich unsichtbar zu machen oder eine andere Gestalt anzunehmen. Nur leider verrät ihr Schatten ihre wahre Gestalt. Weiterhin lernen sie taktische Prinzipien aus dem Wissen um die Abläufe im Universum.
Danach ziehen sie sich meist zurück, leben in Einsamkeit und üben sich in Demut durch Askese und der Kriegskunst. Sie erscheinen den Menschen dann oft als Kriegsmönch oder einsame Asketen. Hochmütigen und bösen Menschen spielen sie gerne einen Streich oder erteilen ihnen oftmals deftige Lehren, vermitteln anderen aber auch gelegentlich die Kampfkünste.

Nach weiteren tausend Jahren voller guter Taten und dem Erreichen vollkommener Demut gelangen sie an das Ende ihrer Tengu-Daseinsform und werden als Mensch wiedergeboren.






Ushiwaka-Maru auf dem Berg Kurama    

Minamoto Yoshitsune, der als kleiner Junge noch den Namen Ushigawa-Maru trug, war der jüngste Sohn des Minamoto Yoshitomo, welcher feige im Auftrag der Anführer des Taira-Clans ermordet wurde. Während der Machtübernahme durch Taira-Kiyomori wurden die meisten der Minamoto-Anhänger grausam hingerichtet.
Yoshitsune bzw. Ushigawa wurde zusammen mit seiner Mutter und zwei weiteren Brüdern gefangen genommen. Die Kinder steckte man in Klöster, um sie dort zu ungefährlichen Mönchen erziehen zu lassen.

Der junge Yoshitsune, ein abenteuerlustiger und aufgeweckter Junge, wurde im Tempel von Kurama aufgezogen. Eines Tages erfuhr er zufällig die Geschichte seiner Herkunft. Seit dieser Zeit trachtete er nur noch danach, sich an den Taira zu rächen.

In den Wäldern von Kurama begegnete ihm eines Tages ein gräßlicher, alter Mann mit weißem Haar, puterrotem Gesicht und einer schrecklich langen Nase. Dass der Junge nicht vor ihm erschrak erfreute den Mann, der kein anderer als der Tengu-König Sojoba war, und er erkannte, dass Yoshitsune das Herz eines großen Kriegers hatte. So kam es, dass Yoshitsune von den Tengu in den Kriegskünsten ausgebildet wurde und so seine legendären Fertigkeiten im Umgang mit den verschiedensten Waffen erwarb.

Im Alter von 14 Jahren floh er aus dem Tempel.
Auf seiner langen Wanderung traf er an der Goyo-Brücke auf den legendären Kriegsmönch Saito Musashibo Benkei.
Benkei, ein bärenstarker Hüne, der niemanden ungeschoren die Brücke überqueren ließ, sah in dem schmächtig wirkenden Burschen keinen ebenbürtigen Gegner und war sehr verwundert, dass dieser ihn zum Kampf aufforderte. Als er daraufhin Yoshitsune mit seiner Lanze attackierte, wich dieser mit Leichtigkeit aus und wehrte alle Schläge mit seinem Schwert und dem Fächer ab.
Nach einem stundenlang währenden Kampf, musste sich Benkei dann, vollkommen erschöpft und unfähig weiterzukämpfen, geschlagen geben.

Der König der Tengu, Sojobo, soll Yoshitsune in diesem Kampf beigestanden und seine Bewegungen geführt haben. Anders waren seine schnellen Ausweichmanöver und die hohen Sprünge über Benkeis Kopf hinweg nicht zu erklären.






Die Rettung Tametomo's durch die Tengu    

Tametomo, einer der großen legendären Krieger, zog mit seinen Truppen in den Krieg gegen den Taira-Clan. Mit dabei hatte er seine Frau und sein einziges Kind.

Auf der Überfahrt nach Kyoto wurden ihre Schiffe von in einem gewaltigen Taifun überrascht und sie drohten alle unterzugehen.
Um den Gott des Meeres zu besänftigen, opferte sich Tametomo's Ehefrau und warf sich über Bord in die tosenden Wellen.

Doch der Taifun tobte weiter. Die Schiffe zerbarsten und ihre Trümmer drifteten im Meer. Tametomo verlor fast alle seine Männer und sein einziges Kind ... darüber war er so erschüttert, dass er sich auf der Stelle das Leben nehmen wollte.
Da erschien plötzlich eine Schar Karasu-Tengu. Einige dieser mythischen Wesen ergriffen ihn und verhinderten, dass er sich selbst tötete. Andere von ihnen hielten das Boot ruhig, auf dem er sich befand, damit es nicht der hohen Wellen wegen kenterte.

Und siehe ... kurz darauf fand einer seiner Anführer Tametomo's Kind im Wasser treibend. Er sprang ins Wasser, um es zu retten.
Doch ein riesiger Hai tauchte aus den Tiefen des Meeres auf. Er griff die beiden an und um ein Haar wäre es um sie geschehen. Aber da erschienen die Geister der toten Krieger Tametomo's und attackierten den Hai, so dass die beiden dem Ungeheuer entkommen konnten.

Und so wurde Tametomo und seinem Kind auf wundersame Weise das Leben gerettet.






Der unwürdige Schüler    

Vor langer, langer Zeit zog ein Kampfkunstschüler durch die Wälder, in der Hoffnung, auf einen der legendären Tengu zu treffen und als Lehrmeister zu gewinnen.
Eines Tages begegnete ihm tatsächlich ein Wanderer mit langer Nase und es stellte sich heraus, das kein anderer als Sojobo selbst dieser einsame Wanderer war. Nach langem Bitten und Betteln ließ sich Sojobo erweichen und lehrte ihm die Kunst der Tengu. Schon nach kurzer Zeit beherrschte der Schüler die Schwertkunst und selbst die magischen Zauberformeln, mit denen man sich unsichtbar machen oder stundenlang unter Wasser tauchen, aber auch schnell wie ein Pferd laufen konnte.
Doch er lernte nur, was ihm selbst wichtig erschien, denn im Innersten seines Herzens war er arrogant und selbstgefällig.
Und so meinte er viel zu früh, alles zu wissen und verließ den Wald, ohne sich auch nur bei seinem Tengu-Lehrer zu bedanken.

Es dauerte nun auch nicht lange und er mißbrauchte seine Kräfte, um sich zu bereichern. Er machte sich unsichtbar und bestahl die Leute, überfiel ahnungslose Wanderer und tötete sogar seine Opfer.
Eines Tages, als er einen einsamen Bergpfad entlang zog, traf er auf einen alten, gebrechlichen Mann. Dieser konnte sich nur noch auf einen Stock gestützt langsam fortbewegen.
Der mißratene Kampfkunstschüler kannte mittlerweile keine Skrupel mehr und weil er auf dem schmalen Weg nicht an dem Alten vorbeikam, zog er sein Schwert und versetzte dem Alten einen fürchterlichen Hieb zum Hals.
Doch das Schwert verfehlte das Ziel. Verdutzt bemerkte er, dass die Klinge noch in der Scheide steckte ... das Schwert war entzwei und er hielt nur den Griff in der Hand.
Als er nun wieder aufschaute war der Alte verschwunden, aber Gelächter ließ ihn nach oben in die Krone eines großen Baumes sehen. Dort saß der alte Mann auf einem Ast und verspottete ihn. Es war kein anderer als Tengu-König Sojobo selbst.

Von diesem Moment an waren die Fertigkeit des Schülers und die Magie der Kampfkunst verflogen und kurze Zeit später wurde er als Wegelagerer und Mörder gefangen und erhielt seine gerechte Strafe.






Der Zaubermantel    

Es gibt einen alten japanischen Spruch, der besagt man solle nie versuchen, einen Tengu zu betrügen, denn man würde selber Schaden nehmen wie in der folgenden Geschichte.

Ein Junge hörte eines Tages eine alte Legende über die Tengu und wie sie sich mit Hilfe ihrer magischen Umhänge unsichtbar machen können.
Er dachte sich es müsse doch toll sein, solch einen Zaubermantel zu besitzen. Und so überlegte er, wie man einen Tengu dazu bringen könne, ihm seinen Umhang zu überlassen. Da fiel ihm ein Trick ein. Er setzte sich auf eine Lichtung im Wald, nahm ein Bambusrohr und tat so als wäre es ein Fernrohr mit dem er den Himmel beobachtete.
Nach kurzer Zeit schon erschienen einige Tengu und beobachteten neugierig sein Tun. Als er plötzlich laut "Aahh" und "Oohh" ausrief fragte der neugierigste Tengu ihn, was es denn mit dem Bambusrohr auf sich habe. Der Junge antwortete ihm, dass er damit sehen könne was gerade auf dem Mond passiert. "Laß mich auch einmal durchschauen!" bat der neugierige Tengu.
"Das geht nicht. Aber ich könnte das Rohr im Tausch gegen etwas anderes überlassen." entgegnete der Junge.
Der Tengu bot ihm seine Schuhe und die Kappe an aber er lehnte ab.
"Dann nimm meinen Umhang!" sprach der Tengu und darauf hatte der Junge nur gewartet. Er ließ das Bambusrohr fallen, ergriff den Zaubermantel und warf ihn sich über. In diesem Augenblick wurde er für alle unsichtbar. So schnell er konnte lief er durch den Wald in sein Dorf zurück.

Dort angekommen fing er sofort an, allerhand Unfug zu treiben.
Zuerst erschreckte er Hühner, Ziegen und Pferde. Dann stahl er Obst aus den Körben vorbeigehender Leute oder zerrte an deren Kleidung oder Sonneschirm, so dass sie verschreckt davonliefen. Er bewegte Gegenstände hin und her, auf und ab und die Leute dachten die Sachen fliegen durch die Luft. Alle im Dorf glaubten es spuke und böse Geister trieben ihr Unheil.

Nach diesem Schabernack beschloß der Junge endlich nach Haus zu gehen. Er schlich sich ins Haus, wo seine Mutter am Herd stand und das Essen bereitete.
Geschwind nahm er den Mantel ab und, hui, wie erschrak die Mutter, als er plötzlich vor ihr stand. "Ich habe dich gar nicht kommen gehört!" rief sie. "Aber gerade ist auch das Essen fertig."
Er hängte noch schnell den Mantel neben die Eingangstür, dann setzte er sich zu Tisch. Nach dem der Junge gegessen hatte wurde er müde und ging dann sogleich schlafen.
Später bemerkte die Mutter den zotteligen, verschmutzten Umhang am Eingang und wunderte sich. Aber trotz vergeblicher Versuche, den Schmutz abzuschütteln und zu säubern, der Mantel blieb so zottelig und scheußlich aussehend.
"So ein gräßliches Ding. Ich werde es verbrennen bevor der Junge aufwacht. Morgen früh weiß er nichts mehr davon!" dachte sie und warf den Umhang ins Feuer.

Als der Junge früh erwachte, lief er sofort zur Tür, um seinen Zaubermantel zu holen und neuen Schabernack treiben zu können.
Doch wie erschrocken war er als er den Mantel nicht mehr vorfand. "Wo ist mein Mantel?" "Ich habe das scheußliche Ding verbrannt!" antwortete die Mutter.
"Waaas!?" schrie er und rannte zur Feuerstelle. Aber da war nur noch Asche übrig. In der Hoffnung, die magische Wirkung des Mantels stecke auch in der Asche, sammelte er diese in ein Gefäß. Dann begann er, sich mit der Asche einzureiben ... und siehe da, nach und nach wurden die mit Asche bedeckten Körperteile unsichtbar.

Daraufhin ging er wieder ins Dorf und begab sich diesmal in ein Wirtshaus. Dort stand ein großes Faß in der Ecke. Er legte sich drunter und öffnete den Zapfhahn. Ein herrlich erfrischendes Getränk benetzte seine Lippen. Und er trank und trank ... Die Gäste hörten nur ein Glucksen und Schmatzen, konnten aber nichts sehen.
Doch ein kleiner Hund lief zum Faß und leckte dem Unsichtbaren die Tropfen von den Mundwinkeln, so dass plötzlich zwei Lippen zu sehen waren. Und je mehr der Hund leckte um so mehr wurde vom Gesicht des Jungen sichtbar.
Die Leute erschraken ob des schemenhaften Anblickes. Als dem Jungen bewußt wurde, dass man ihn bemerkt hatte, lief ihm der Angstschweiß von der Stirn. Und nach und nach wurde die Asche auf seinem Körper vom Schweiß aufgelöst und der Hund tat den Rest dazu, ihn zu entlarven.
"Ein Dieb!" riefen die Leute nachdem ihnen klar geworden war, dass ihnen hier übel mitgespielt wurde.
Sie ergriffen ihn und mit einem kalten Guß aus einem Wasserkübel wurde er endgültig wieder zum Vorschein gebracht. Da stand er nun wie ein begossener Pudel und völlig beschämt vor den Leuten.
Froh, keine Tracht Prügel zu bekommen, erzählte er den immer noch wütenden Leuten seine Geschichte von dem Zaubermantel der Tengu.
"Hoffentlich ist es dir eine Lehre und du wirst nie wieder versuchen, einen Tengu zu betrügen!" sprachen die Ältesten und die Menge fing an ihn auszulachen.

Nie wieder hat der Junge versucht, andere Menschen zu betrügen oder ihnen einen Streich zu spielen. Aber auch einen Tengu hat er nie wieder zu Gesicht bekommen.






   






- Impressum -